Oberleutnant Herbert Keller:

Die Übergabe der Luft-Muna Schierling im April 1945

Das Gebiet der Luftmunitionsanstalt 2/VII zum Sperrgebiet erklärt – „Noch nie Befehl in solcher Eile durchgeführt“ – Gaswolke von 100 km Reichweite war zu befürchten

Die Berichte von drei deutschen Autoren sind bekannt über die Übergabe der Muna Schierling Ende April 1945. Alle sind Monate nach dem Ereignis entstanden. Sie geben einen subjektiven Eindruck wider, deshalb weichen sie voneinander ab. Da aber sicher sein dürfte, daß eine reibungslose Übergabe am Schluß doch dem mutigen und entschlossenen Handeln von Oberleutnant Herbert Keller zu verdanken ist, wird sein am 9. August 1945 in St. Johann bei Tiefenbach verfaßter Bericht veröffentlicht. Seinem Vorbehalt, Veröffentlichungen nur mit Genehmigung der Militärregierung und des Verfassers zu ermöglichen, konnte nicht gefolgt werden, da erstere seit Jahrzehnten abgelöst ist und Herr Keller schon vor 15 Jahren trotz intensiver Bemühungen von seiten der Verwaltung des Marktes Schierling nicht ausfindig gemacht werden konnte.

Herbert Keller schreibt:

„Im Juli 1944 wurde die Luftmunitionsanstalt 2/VII Schierling wegen ihrer zentralen Lage vom Oberkommando der Luftwaffe zur Kampfstoffmunitionsanstalt bestimmt. Ich wurde beauftragt, die Umstellung durchzuführen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen für die umliegenden Ortschaften und für die zivile Bevölkerung zu treffen. Da ich schon in einer Kampstoffmuna in Ostpreußen, die wegen Feindbedrohung geräumt werden mußte, als Technischer Offizier tätig war, wurden die erforderlichen Maßnahmen bald erledigt.

Die militärische Lage zwang dazu, daß außer der ostpreußischen Muna eine weitere Kampfstoffanstalt in Polen und eine in Oberschlesien geräumt werden mußten. Der größte Teil dieser Munition wurde von Schierling aufgenommen. Als sich im Februar 1945 die Lage selbst im West- und Mitteldeutschen Raum verschärfte, wurde die geheimste Munitionsart von den betroffenen Anstalten ebenfalls nach Schierling gebracht. Infolge der eingetroffenen großen Munitionsmengen reichten die zur Lagerung vorgesehenen Bunker bei weitem nicht mehr aus. Behelfsmäßige Schuppen und Schleppdächer mußten zur Einlagerung herangezogen werden und da der Platz noch nicht ausreichte, wurden eine große Anzahl Munitionsstapel im Freien angelegt. Durch diese Maßnahme war eine erhebliche Gefährdung für die umliegenden Ortschaften entstanden. Ohne Berücksichtigung der Bombenhüllen und der Transportkästen waren im April 1945 über 6000000 kg an chemischen Kampfstoffen eingelagert. Schon aus der Zahl geht hervor, daß die Umgebung bei einer Katastrophe, die durch einen Bombenangriffe entstehen konnte, bis weit in das Land hinein gefährdet war. Selbst die Gasmaske hätte in solch einem Fall nur für wenige Atemzüge Schutz geboten, denn bei der entstehenden starken Konzentration hätte sich der Filtereinsatz rasch verbraucht. Da solch ein Fall noch nie vorgekommen ist, gingen die Ansichten der Fachleute darüber auseinander. Immerhin mußte bei dem Freiwerden solcher ungeheurer Mengen chemischer Kampfstoffe unter Umständen mit einer Gastwolke von über 100 km Reichweite gerechnet werden.

Februar 1945

Im Februar 1945 war der militärische Zusammenbruch nicht mehr aufzuhalten. Von vorgesetzten Dienststellen hagelte es mit Befehlen über Vernichten und Zerstören von militärischen Anlagen und Wehrmachtgut. Über die Behandlung der Kampfstoffmunition wurde zunächst keine klare Weisung erteilt. Eine Kommission des Luftgaues hatte nach eingehender Besichtigung das Vergraben der Munition in zwei Meter Tiefe angeordnet. Meine Einwände, daß mein Durchrosten der Bombenhüllen das Grundwasser für weite Gebiete und für viele Jahre vergiftet würde, fanden keine Berücksichtigung. Arbeitskolonnen rückten an und sollten den Schildbürgerstreich durchführen. Der Leiter der Anstalt ließ sich jedoch bald von der Sinnlosigkeit überzeugen und die Arbieten wurden eingestellt. Aufgrund eines Hitlerbefehls sollte die geheimste Munitionsart auf 30 Donaukähnen verladen werden. Das Eisenbahnnetz im Gebiet Regensburg-Passau wurde durch Luftangriffe so zerstört, daß zur zwei Züge die Muna verlassen konnten und auch dieses Unternehmen bald eingestellt werden mußte.

25. April 1945

Fast täglich wurde das Gebiet der Muna von starken Bomberverbänden überflogen. Obwohl auch schon in nächster Nähe Abwürfe erfolgt waren, blieb die Muna selbst verschont. Das sollte sich heute ändern. Die Arbeitseinteilung war gerade vorüber, die Arbeiter befanden sich auf dem Weg zu ihren Arbeitsstellen, als sechs Jagdbomber über der Muna erschienen und sich für den Angriff kurz orientierten. Schon fielen die ersten Bomben und Geschoßgarben prasselten aus den Maschinenwaffen der Jabos. Diese Angriffe wurden bis Mittag mehrmals wiederholt. Die Arbeiter hatten schleunigst in den Luftschutzräumen Deckung gesucht oder sich ins Freie gerettet. Personenverluste waren so zum Glück nicht entstanden. Da die meisten Treffer in der Nähe von den Baustellen lagen und nur wenige Kampfstoffbomben in den Freistapeln mit nicht so gefährlicher Füllung getroffen waren, erschien der entstandene Schaden zunächst gering. Wie sich aber später herausstellte, hat selbst die Entgiftung dieser wenigen Schadenstellen wochenlanger Entgiftungsarbeit bedurft. Dieser Zwischenfall bedingte die Einstellung der Munitionsarbeiten. Die Front war inzwischen auch so weit herangerückt, daß sämtliche Arbeiter und Angestellte gelöhnt und entlassen werden mußten. Auch ich wurde, da ich scherkriegsbeschädigt bin, vom Leiter der Muna beurlaubt. An diesem Tag erschien ein Offizier vom deutschen Armeestab, er hatte den Auftrag sich über die Bestände zu informieren und sagt, daß eine kampflose Übergabe von höherer Führung geplant sei.

26. April 1945

Kurz vor Mitternacht kam ein Auto in mein Quartier nach St. Johann. Ich wurde von Oberfeuerwerker Christen und dem Kraftfahrer Neumeister gerufen, sie sagten mir, daß von deutscher Seite noch kein Parlamentär geschickt worden sei. Die notwendigen Schritte sollten von einem Offizier der Muna veranlaßt werden. Der Leiter der Muna hätte selbst auf wiederholtes Drängen des Stammpersonals die Durchführung der Übergabeverhandlungen abgelehnt. Er wollte bei dem Anrücken des Gegners ihnen entgegengehen und dann die Muna übergeben: eine weiße Fahne würde niemals über der Muna wehen. Im Abschnitt Schierling-Langquaid lagen seit einigen Tagen S.S.-Verbände mit Luftangriffen und Artilleriebeschuß mußte deshalb gerechnet werden. Da gab es für mich kein langes Überlegen, jede Minute war kostbar. Zunächst galt es, den Stab des zuständigen Armeekommandos ausfindig zu machen. In Schierling angekommen, hatte der Stab sein Quartier verlegt, wohin war natürlich nicht zu erfahren. Also kehrt, – nach Langquaid! In Oberleierndorf war ein Lastkraftwagen in den Straßengraben geraten und die Straße war dadurch so versperrt, daß mit einem Vorbeikommen in den nächsten Stunden nicht zu rechnen war. Wieder wurde kehrt gemacht. Keine Formation konnte genaue Auskunft geben. Endlich erfuhren wir in Zaitzkofen, daß sich der Armeestab in Sallach bei Mallersdorf befinden solle. In höchster Fahrt ging es nach dort.

27. April 1945

Morgens gegen 3 Uhr hatte ich den Stab endlich ausfindig gemacht. Nach einigen Verhandlungen erhielt ich um 5 Uhr den Parlamentärsausweis und erfuhr auch, daß sich die deutschen Truppen aus Regenburg zurückziehen, und mit einem Nachstoßen des Gegners in den Morgenstunden zu rechnen sei. Nun ging es der Front entgegen. In der Nähe des Flugplatzes Obertraubling sollte der Amerikaner bereits einen Brückenkopf gebildet haben. Ein Bettlaken wurde jetzt über den Kühler gespannt und eine weiße Fahne an meinem Krückstock befestigt. Es war gut so, in Obertraubling befand sich kein Mensch im Ort, – also Niemandsland. Kurz vor dem Flugplatz stießen wir auf den ersten amerikanischen Gefechtsvorposten, es war 6.05 Uhr.

Kontakt mit Amerikanern

Die Verständigung mit meinem mangelhaften Englischkenntnissen war schwer, jedoch wurden wir bald zum Capitän gebracht und von da zum amerikanischen Armeestab weiterbefördert. Ohne daß man uns die Augen verband, gelangten wir in das Stabsquartier nach Salching. Die Verhandlung verlief reibungslos. Es wurde vereinbart, daß das Gelände 10 km im Umkreis der Muna als neutrale Zone behandelt würde, und bei Annäherung der Front dann kampflos übergeben werden müßte. Weiter wurde vereinbart, das betroffene Gebiet von deutschen Truppen unverzüglich zu räumen und in den Ortschaften die weiße Fahne zu hissen. Die letzten Maßnahmen hatte ich schon dem deutschen Stab vorgeschlagen und um die Durchführung bis 6 Uhr morgens gebeten. Der amerikanische Verbindungsoffizier der Luftwaffe erhielt Anweisungen, dann wurden die Karten mit dem Sperrgebiet versehen, meine Mission hatte sich damit erfüllt.

Sperrgebiet festgelegt

Inzwischen war es Mittag geworden. Von der Militär-Police wurden wir bis zur Stelle unserer Frontüberschreitung begleitet und erhielten dort die abgegebenen Waffen zurück. Ein Aufklärungsflugzeug kreiste ständig über uns. Wir sollten den gleichen Rückweg wie zum Anmarsch benutzen. Inzwischen war jedoch die Front in Bewegung geraten. Maschinengewehrschüsse pfiffen und plötzlich befanden wir uns bei Köfering im Artilleriefeuer. Was tun? An ein Durchkommen war nicht zu denken. Der Kraftfahrer behielt seine Ruhe, er lenkte um und nun ging es über Stock und Stein zurück, kleine Feldwege entlang und zum Teil über den Acker. Einigemale mußten wir heraus und den Wagen über Hindernisse heben. Es hatte geklappt, der Horizontschleicher war geglückt.

Weiße Fahne am Kirchturm

Plötzlich versperrte uns ein deutscher Offizier den Weg. Er wollte uns auf keinen Fall weiterfahren lassen. Ich wollte schon mit Gewalt freie Durchfahrt schaffen, als ein Melder kam und die Grenzen des Sperrgebietes von Schierling überbrachte. Nun waren wir legitimiert und konnten die Weiterfahrt ungehindert antreten. Bei Paring tauchten die ersten weissen Fahnen auf, und auch von den Kirchtürmen der Umgebung waren sie von weither zu sehen. Von Angehörigen des Volkssturmes wurden wir freudig begrüßt. Noch nie war ein Befehl in solcher Eile durchgeführt worden.

29. April 1945

Am Sonntag, den 29. April, erschienen vormittags amerikanische Truppen und die Munitionsanstalt (K) 2/VII (Schierling) wurde wie vereinbart, kampflos übergeben. Veröffentlichungen dürfen nur mit Genehmigung der Militärregierung und des Verfassers erfolgen. Herbert Keller.“

 
(aus: Fritz Wallner, Das Wunder von Schierling, Sonderveröffentlichung der Mittelbayerischen Zeitung Regensburg zur Verlängerung des Gelübdes um 25 Jahre, 20. April 1995)